Montag, 23. Juni 2014

Es wird nicht weniger Streit geben

Das gemeinsame Sorgerecht ist ab dem 1. Juli der Normalfall. Damit endet der Kampf von Vätern für gleiche Rechte gegenüber ihren Kindern. Konflikte zwischen den Eltern werden deshalb aber nicht abnehmen, sondern sich nur verlagern, sagen Fachleute.

 

 Freudentag für Väter: Sie erhalten nun mehr Mitsprache bei der Erziehung ihrer Kinder. Foto: Getty Images Freudentag für Väter: Sie erhalten nun mehr Mitsprache bei der Erziehung ihrer Kinder. Foto: Getty 

Kinder stehen unter dem gemeinsamen Sorgerecht von Vater und Mutter. Dieser Grundsatz gilt künftig für alle Eltern, egal ob sie miteinander verheiratet sind oder nicht, ob sie zusammenleben, getrennt oder geschieden sind. Dass ein Elternteil das alleinige Sorgerecht erhält, wird es nur noch in Ausnahmefällen geben. Und die Hürden für solche Ausnahmen werden hoch sein, sagt Patrick Fassbind, Leiter der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) der Stadt Bern. Wehrt sich etwa eine Mutter gegen die gemeinsame elterliche Verantwortung mit dem Argument, eine Kooperation mit dem Vater sei nicht möglich, so reicht dies nicht. Die Konflikte müssten schon massiv und anhaltend sein und sich aufs Kindeswohl auswirken, zudem müssten sie nachgewiesen sein, sagt Fassbind. Im Zweifelsfall klärt die Behörde ab.
Der Paradigmenwechsel, der ab dem 1. Juli gelten wird, verbessert die Stellung der Väter. «Sie müssen nun nicht mehr um das Sorgerecht kämpfen, sondern dieses steht ihnen aus ihrer Funktion heraus zu», sagt Oliver Hunziker, Präsident vom Verein verantwortungsvoll erziehende Väter und Mütter (VEV). Die Hoffnungen in die Gesetzesänderung sind deshalb vor allem aufseiten der Männer gross. Das Gesetz regelt ­allerdings nur weniges verbindlich. Es setzt vielmehr voraus, dass sich die Eltern zusammenreissen und selber tragfähige Lösungen finden. 

Behörden schlichten nicht

Künftig werden also die Eltern im Normalfall auch nach einer Trennung gemeinsam über die Pflege und Erziehung des Kindes befinden. Dazu gehören etwa Entscheide welche die Schule, Religion oder die medizinische Behandlung ­betreffen. Bei Uneinigkeit können sich Väter und Mütter an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) wenden. «Die KESB ist jedoch keine Schlichtungsstelle. Sie greift nur ein, wenn das Kindeswohl schwerwiegend gefährdet ist», sagt Patrick Fassbind. Streiten sich die Eltern zum Beispiel darüber, welche Sportart ein Kind ausüben soll, so werde sich die KESB nicht einmischen. Denn wie sich ein Kind sportlich betätige, sei für das Kindeswohl nicht entscheidend. Man werde die Eltern nötigenfalls an eine Beratungsstelle verweisen, um zu verhindern, dass sich der Streit zu einem heftigen Dauerkonflikt auswächst mit negativen Folgen für das Kind.

Doch nicht alles müssen die Eltern gemeinsam beschliessen. Neu steht im Gesetz, dass derjenige Elternteil, der das Kind gerade betreut, ohne Absprache mit dem andern über Alltäglichkeiten wie etwa Ernährung, Kleidung oder Freizeitgestaltung bestimmen darf. Auch dringliche Entscheide, also solche die sich nicht aufschieben lassen, wie etwa ein medizinischer Notfall, kann der betreuende Elternteil allein fällen.

Die Abgrenzung zwischen alltäglichen und nicht alltäglichen Entscheiden dürfte in der Praxis nicht immer einfach sein. Und das Gesetz macht dazu keine konkreten Angaben. Konflikte zwischen den Eltern sind entsprechend programmiert. Der Zürcher Bezirksrichter Urs Gloor hofft deshalb, «dass die Gerichte baldmöglichst eine allgemeine Richtlinie aufstellen.» 

Umstrittener «Zügelartikel»

Hohes Konfliktpotenzial sehen Fachleute auch im sogenannten «Zügelartikel». Beim gemeinsamen Sorgerecht bestimmen die Eltern nämlich auch gemeinsam über den Aufenthaltsort des Kindes. Will ein Elternteil mit dem Kind umziehen, braucht er die Einwilligung des andern, sofern der Umzug erhebliche Auswirkungen hat auf das Sorgerecht und auf den Kontakt des Kindes zum andern Elternteil. Was als erheblich gilt, wird wiederum erst die Gerichts­pra­xis zeigen. Dabei spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, sagt Bezirksrichter Gloor. So der Betreuungsanteil: Je mehr etwa ein Vater sein Kind betreut, desto erheblicher wirkt sich ein Wohnsitzwechsel des Kindes aus. Eine Zustimmung ist auf jeden Fall auch dann nötig, wenn ein Elternteil mit dem Kind ins Ausland ziehen will. 

Verweigert ein Vater seine Einwilligung zum Umzug, kann sich die Mutter ans Gericht oder die KESB wenden. Setzt sich eine Mutter über das Zustimmungsrecht des Vaters hinweg, kann dies Sanktionen zur Folge haben. Der «Zügelartikel» stärkt wiederum in erster Linie die Rechte der Väter. Doch darf er nicht dazu führen, den Müttern einen Umzug zu verbieten und damit ihre Niederlassungsfreiheit zu beschränken. «Der Artikel schürt hohe Erwartungen, die er in der Praxis nicht wird erfüllen können», sagt Experte Patrick Fassbind. Zudem schaffe er neue Ungleichbehandlungen, weil nämlich derjenige Elternteil, der ohne Kind umziehen will, nicht auf die Zustimmung des andern angewiesen ist.

Was das neue Recht nicht regelt

Dass Väter mehr Verantwortung oder ­einen bestimmten Anteil an Betreuung ihrer Kinder übernehmen, sei keine ­Bedingung für das gemeinsame Sorgerecht, so Fassbind. Auch in diesem Punkt müssen sich die Eltern vorab selber einigen, andernfalls entscheidet die Behörde. Doch auch in Zukunft wird es möglich sein, dass ein Elternteil die Betreuungsregelung hintertreibt, und auch in Zukunft werden die Behörden wie heute vor Vollstreckungsmassnahmen eher zurückschrecken. Man werde vermehrt auf andere Konfliktlösungen setzen und den Eltern etwa eine Mediation anordnen, sagt Richter Gloor.

Das neue Gesetz bringt also nicht automatisch ein Ende der elterlichen Konflikte, es verlagert sie nur. Nötig sei ein Mentalitätswandel, sagt Patrick Fassbind. Aber es brauche auch mehr Möglichkeiten für Väter wie etwa Teilzeit­stellen, damit diese in Zukunft ihre ­Betreuungsverantwortung vermehrt wahrnehmen können. (Tages-Anzeiger)

Praktisches Vorgehen - Bei Einigkeit genügt eine gemeinsame Erklärung

Allgemeines: Sind Vater und Mutter miteinander verheiratet, erhalten sie schon heute automatisch mit der Geburt eines Kindes das gemeinsame Sorgerecht und behalten dies bei einer Scheidung bei. Unverheiratete Eltern müssen dieses jedoch explizit deklarieren oder beantragen. Solange sie das nicht tun, hat die Mutter das alleinige Sorgerecht.
Gemeinsame Erklärung: Sind sich unverheiratete Eltern einig, erklären sie auf einem vorgedruckten Formular mit ihrer Unterschrift, dass sie gemeinsam die Verantwortung für ihr Kind wahrnehmen wollen und dass sie sich über alle weiteren Kinderbelange, wie Obhut, Betreuung oder persönlichen Verkehr mit dem Kind sowie den Unterhaltsbeitrag verständigt haben. Dabei sind die Eltern frei, wie sie etwa die Betreuung regeln. Sie müssen den Behörden dazu auch keine Angaben machen, und die Behörden überprüfen die getroffene Regelung auch nicht.
Die gemeinsame Erklärung können die Eltern entweder zusammen mit der Vaterschaftsanerkennung beim Zivilstandsamt abgeben oder sonst später bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) am Wohnsitz des Kindes. Sie erhalten dann eine behördliche Bestätigung. Formulare zur gemeinsamen Erklärung werden spätestens am 1. Juli auf den Websites sämtlicher KESB aufgeschaltet sein.
Ohne gemeinsame Erklärung: Ist ein Elternteil nicht bereit, eine Erklärung über das gemeinsame Sorgerecht abzugeben, kann der andere an die KESB gelangen. Diese entscheidet dann. Nach dem neuen Recht muss die KESB die gemeinsame elterliche Sorge erteilen, sofern keine Gründe dagegen vorliegen. Diese muss sie jedoch überprüfen. Für ihren Entscheid hat sich die KESB am Kindeswohl zu orientieren.
Uneinigkeit der Eltern: Sind sich die Eltern zwar über die gemeinsame Sorge einig, aber nicht über die Aufteilung der Betreuung oder den persönlichen Kontakt, können sie sich ebenfalls an die KESB wenden. Dabei kann es sein, dass die Behörde erst einmal eine vorsorgliche Regelung trifft und dann die Erfahrungen abwartet, bevor sie einen definitiven Entscheid fällt.
Streiten sich unverheiratete Eltern jedoch über den Unterhaltsbeitrag, ist nicht die KESB für eine Lösung zuständig, sondern das Gericht. Die Höhe des Unterhaltsbeitrags hängt unter anderem von der Aufteilung der Betreuung unter den Eltern ab.
Rückwirkende Bestimmung: Geschiedene ohne gemeinsame elterliche Sorge können innert eines Jahres ab Inkrafttreten des neuen Gesetzes die gemeinsame Sorge beantragen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Scheidung nicht mehr als 5 Jahre zurückliegt. Ist der andere Elternteil mit der gemeinsamen Sorge nicht einverstanden, müssen Geschiedene ihren Antrag vor Gericht stellen. Ansonsten können sie an die KESB gelangen.
Auch unverheiratete Eltern ohne gemeinsame Sorge können diese innert Jahresfrist bei der KESB beantragen. Bei Unverheirateten spielt es zudem keine Rolle, wie lange die Trennung vom andern Elternteil zurückliegt.
AHV-Erziehungsgutschriften: Neu müssen die Eltern auch selber festlegen, wie die Erziehungsgutschriften der AHV aufzuteilen sind, ob diese vollumfänglich einem Elternteil zustehen sollen oder jedem Elternteil zur Hälfte. Eine entsprechende Erklärung geben sie mit dem Formular über die gemeinsame Sorge ab. Treffen die Eltern keine Vereinbarung, entscheidet die KESB innerhalb von drei Monaten nach Festlegung der gemeinsamen Sorge. Dabei berücksichtigt die Behörde die Betreuungsleistung jedes Elternteils.  

Quelle: Tages-Anzeiger 23.6.14

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