Montag, 30. Juni 2014

PR-Desaster nach Tweet

Die niederländische Airline sorgte mit einem Tweet für einen waschechten Shitstorm. Ein Scherz nach Hollands Fussball-Sieg über Mexiko kam nicht gut an – und KLM entschuldigte sich.

 

Kam nicht gut an: Das Bild im KLM-Tweet. (Screenshot Twitter)


Es sollte ein Scherz sein – und wurde zum PR-Desaster: Die niederländische Fluggesellschaft KLM twitterte am Sonntag nach dem 2:1-Sieg der Nationalmannschaft gegen Mexiko im Achtelfinale der Fussball-Weltmeisterschaft «Adios Amigos» – zusammen mit dem Bild eines Mannes mit einem Schnurrbart, der neben einem Schild mit der Aufschrift Departures (Abflüge) stand und einen Sombrero schwenkte.

Der Tweet verbreitete sich rasend schnell im Internet – ebenso wie die empörte Reaktionen darauf. Der mexikanische Schauspieler Gael García Bernal etwa liess seine mehr als zwei Millionen Twitter-Follower wissen, dass er niemals wieder mit KLM fliegen werde.

Nach rund einer halben Stunde nahm die Fluggesellschaft den Tweet dann wieder aus dem Netz. «Es war als Scherz gemeint», sagte KLM-Sprecherin Lisette Ebeling Koning der Nachrichtenagentur Associated Press. «Aber dann hat es zu viele negative Reaktionen gegeben.» Noch am späten Sonntagabend entschuldigte sich das Unternehmen förmlich. «In bestem Sportsgeist bitten wir alle, die sich von dem Kommentar beleidigt fühlen, um aufrichtige Entschuldigung», erklärte der KLM-Generaldirektor für Nordamerika, Marnix Fruitema.

Mit Humor reagierte die mexikanische Fluggesellschaft AeroMexico. Sie twitterte ein Bild der Nationalmannschaft unter dem Schild Arrivals (Ankünfte) und mit dem Text: «Danke für dieses grossartige Turnier. Ihr habt uns stolz gemacht, und wir erwarten Euch zu Hause.»   

Quelle: Agenturen

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Montag, 23. Juni 2014

Es wird nicht weniger Streit geben

Das gemeinsame Sorgerecht ist ab dem 1. Juli der Normalfall. Damit endet der Kampf von Vätern für gleiche Rechte gegenüber ihren Kindern. Konflikte zwischen den Eltern werden deshalb aber nicht abnehmen, sondern sich nur verlagern, sagen Fachleute.

 

 Freudentag für Väter: Sie erhalten nun mehr Mitsprache bei der Erziehung ihrer Kinder. Foto: Getty Images Freudentag für Väter: Sie erhalten nun mehr Mitsprache bei der Erziehung ihrer Kinder. Foto: Getty 

Kinder stehen unter dem gemeinsamen Sorgerecht von Vater und Mutter. Dieser Grundsatz gilt künftig für alle Eltern, egal ob sie miteinander verheiratet sind oder nicht, ob sie zusammenleben, getrennt oder geschieden sind. Dass ein Elternteil das alleinige Sorgerecht erhält, wird es nur noch in Ausnahmefällen geben. Und die Hürden für solche Ausnahmen werden hoch sein, sagt Patrick Fassbind, Leiter der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) der Stadt Bern. Wehrt sich etwa eine Mutter gegen die gemeinsame elterliche Verantwortung mit dem Argument, eine Kooperation mit dem Vater sei nicht möglich, so reicht dies nicht. Die Konflikte müssten schon massiv und anhaltend sein und sich aufs Kindeswohl auswirken, zudem müssten sie nachgewiesen sein, sagt Fassbind. Im Zweifelsfall klärt die Behörde ab.
Der Paradigmenwechsel, der ab dem 1. Juli gelten wird, verbessert die Stellung der Väter. «Sie müssen nun nicht mehr um das Sorgerecht kämpfen, sondern dieses steht ihnen aus ihrer Funktion heraus zu», sagt Oliver Hunziker, Präsident vom Verein verantwortungsvoll erziehende Väter und Mütter (VEV). Die Hoffnungen in die Gesetzesänderung sind deshalb vor allem aufseiten der Männer gross. Das Gesetz regelt ­allerdings nur weniges verbindlich. Es setzt vielmehr voraus, dass sich die Eltern zusammenreissen und selber tragfähige Lösungen finden. 

Behörden schlichten nicht

Künftig werden also die Eltern im Normalfall auch nach einer Trennung gemeinsam über die Pflege und Erziehung des Kindes befinden. Dazu gehören etwa Entscheide welche die Schule, Religion oder die medizinische Behandlung ­betreffen. Bei Uneinigkeit können sich Väter und Mütter an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) wenden. «Die KESB ist jedoch keine Schlichtungsstelle. Sie greift nur ein, wenn das Kindeswohl schwerwiegend gefährdet ist», sagt Patrick Fassbind. Streiten sich die Eltern zum Beispiel darüber, welche Sportart ein Kind ausüben soll, so werde sich die KESB nicht einmischen. Denn wie sich ein Kind sportlich betätige, sei für das Kindeswohl nicht entscheidend. Man werde die Eltern nötigenfalls an eine Beratungsstelle verweisen, um zu verhindern, dass sich der Streit zu einem heftigen Dauerkonflikt auswächst mit negativen Folgen für das Kind.

Doch nicht alles müssen die Eltern gemeinsam beschliessen. Neu steht im Gesetz, dass derjenige Elternteil, der das Kind gerade betreut, ohne Absprache mit dem andern über Alltäglichkeiten wie etwa Ernährung, Kleidung oder Freizeitgestaltung bestimmen darf. Auch dringliche Entscheide, also solche die sich nicht aufschieben lassen, wie etwa ein medizinischer Notfall, kann der betreuende Elternteil allein fällen.

Die Abgrenzung zwischen alltäglichen und nicht alltäglichen Entscheiden dürfte in der Praxis nicht immer einfach sein. Und das Gesetz macht dazu keine konkreten Angaben. Konflikte zwischen den Eltern sind entsprechend programmiert. Der Zürcher Bezirksrichter Urs Gloor hofft deshalb, «dass die Gerichte baldmöglichst eine allgemeine Richtlinie aufstellen.» 

Umstrittener «Zügelartikel»

Hohes Konfliktpotenzial sehen Fachleute auch im sogenannten «Zügelartikel». Beim gemeinsamen Sorgerecht bestimmen die Eltern nämlich auch gemeinsam über den Aufenthaltsort des Kindes. Will ein Elternteil mit dem Kind umziehen, braucht er die Einwilligung des andern, sofern der Umzug erhebliche Auswirkungen hat auf das Sorgerecht und auf den Kontakt des Kindes zum andern Elternteil. Was als erheblich gilt, wird wiederum erst die Gerichts­pra­xis zeigen. Dabei spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, sagt Bezirksrichter Gloor. So der Betreuungsanteil: Je mehr etwa ein Vater sein Kind betreut, desto erheblicher wirkt sich ein Wohnsitzwechsel des Kindes aus. Eine Zustimmung ist auf jeden Fall auch dann nötig, wenn ein Elternteil mit dem Kind ins Ausland ziehen will. 

Verweigert ein Vater seine Einwilligung zum Umzug, kann sich die Mutter ans Gericht oder die KESB wenden. Setzt sich eine Mutter über das Zustimmungsrecht des Vaters hinweg, kann dies Sanktionen zur Folge haben. Der «Zügelartikel» stärkt wiederum in erster Linie die Rechte der Väter. Doch darf er nicht dazu führen, den Müttern einen Umzug zu verbieten und damit ihre Niederlassungsfreiheit zu beschränken. «Der Artikel schürt hohe Erwartungen, die er in der Praxis nicht wird erfüllen können», sagt Experte Patrick Fassbind. Zudem schaffe er neue Ungleichbehandlungen, weil nämlich derjenige Elternteil, der ohne Kind umziehen will, nicht auf die Zustimmung des andern angewiesen ist.

Was das neue Recht nicht regelt

Dass Väter mehr Verantwortung oder ­einen bestimmten Anteil an Betreuung ihrer Kinder übernehmen, sei keine ­Bedingung für das gemeinsame Sorgerecht, so Fassbind. Auch in diesem Punkt müssen sich die Eltern vorab selber einigen, andernfalls entscheidet die Behörde. Doch auch in Zukunft wird es möglich sein, dass ein Elternteil die Betreuungsregelung hintertreibt, und auch in Zukunft werden die Behörden wie heute vor Vollstreckungsmassnahmen eher zurückschrecken. Man werde vermehrt auf andere Konfliktlösungen setzen und den Eltern etwa eine Mediation anordnen, sagt Richter Gloor.

Das neue Gesetz bringt also nicht automatisch ein Ende der elterlichen Konflikte, es verlagert sie nur. Nötig sei ein Mentalitätswandel, sagt Patrick Fassbind. Aber es brauche auch mehr Möglichkeiten für Väter wie etwa Teilzeit­stellen, damit diese in Zukunft ihre ­Betreuungsverantwortung vermehrt wahrnehmen können. (Tages-Anzeiger)

Praktisches Vorgehen - Bei Einigkeit genügt eine gemeinsame Erklärung

Allgemeines: Sind Vater und Mutter miteinander verheiratet, erhalten sie schon heute automatisch mit der Geburt eines Kindes das gemeinsame Sorgerecht und behalten dies bei einer Scheidung bei. Unverheiratete Eltern müssen dieses jedoch explizit deklarieren oder beantragen. Solange sie das nicht tun, hat die Mutter das alleinige Sorgerecht.
Gemeinsame Erklärung: Sind sich unverheiratete Eltern einig, erklären sie auf einem vorgedruckten Formular mit ihrer Unterschrift, dass sie gemeinsam die Verantwortung für ihr Kind wahrnehmen wollen und dass sie sich über alle weiteren Kinderbelange, wie Obhut, Betreuung oder persönlichen Verkehr mit dem Kind sowie den Unterhaltsbeitrag verständigt haben. Dabei sind die Eltern frei, wie sie etwa die Betreuung regeln. Sie müssen den Behörden dazu auch keine Angaben machen, und die Behörden überprüfen die getroffene Regelung auch nicht.
Die gemeinsame Erklärung können die Eltern entweder zusammen mit der Vaterschaftsanerkennung beim Zivilstandsamt abgeben oder sonst später bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) am Wohnsitz des Kindes. Sie erhalten dann eine behördliche Bestätigung. Formulare zur gemeinsamen Erklärung werden spätestens am 1. Juli auf den Websites sämtlicher KESB aufgeschaltet sein.
Ohne gemeinsame Erklärung: Ist ein Elternteil nicht bereit, eine Erklärung über das gemeinsame Sorgerecht abzugeben, kann der andere an die KESB gelangen. Diese entscheidet dann. Nach dem neuen Recht muss die KESB die gemeinsame elterliche Sorge erteilen, sofern keine Gründe dagegen vorliegen. Diese muss sie jedoch überprüfen. Für ihren Entscheid hat sich die KESB am Kindeswohl zu orientieren.
Uneinigkeit der Eltern: Sind sich die Eltern zwar über die gemeinsame Sorge einig, aber nicht über die Aufteilung der Betreuung oder den persönlichen Kontakt, können sie sich ebenfalls an die KESB wenden. Dabei kann es sein, dass die Behörde erst einmal eine vorsorgliche Regelung trifft und dann die Erfahrungen abwartet, bevor sie einen definitiven Entscheid fällt.
Streiten sich unverheiratete Eltern jedoch über den Unterhaltsbeitrag, ist nicht die KESB für eine Lösung zuständig, sondern das Gericht. Die Höhe des Unterhaltsbeitrags hängt unter anderem von der Aufteilung der Betreuung unter den Eltern ab.
Rückwirkende Bestimmung: Geschiedene ohne gemeinsame elterliche Sorge können innert eines Jahres ab Inkrafttreten des neuen Gesetzes die gemeinsame Sorge beantragen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Scheidung nicht mehr als 5 Jahre zurückliegt. Ist der andere Elternteil mit der gemeinsamen Sorge nicht einverstanden, müssen Geschiedene ihren Antrag vor Gericht stellen. Ansonsten können sie an die KESB gelangen.
Auch unverheiratete Eltern ohne gemeinsame Sorge können diese innert Jahresfrist bei der KESB beantragen. Bei Unverheirateten spielt es zudem keine Rolle, wie lange die Trennung vom andern Elternteil zurückliegt.
AHV-Erziehungsgutschriften: Neu müssen die Eltern auch selber festlegen, wie die Erziehungsgutschriften der AHV aufzuteilen sind, ob diese vollumfänglich einem Elternteil zustehen sollen oder jedem Elternteil zur Hälfte. Eine entsprechende Erklärung geben sie mit dem Formular über die gemeinsame Sorge ab. Treffen die Eltern keine Vereinbarung, entscheidet die KESB innerhalb von drei Monaten nach Festlegung der gemeinsamen Sorge. Dabei berücksichtigt die Behörde die Betreuungsleistung jedes Elternteils.  

Quelle: Tages-Anzeiger 23.6.14

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Gewalttäter ausgeschafft - und freigelassen

Verwahrte kommen in ihrem Herkunftsland meistens umgehend frei, obwohl sie in der Schweiz als gemeingefährlich gelten. Wie ist das möglich?

 

Die Zelle eines Verwahrten in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf. Foto: Alessandro della Bella (Keystone) Die Zelle eines Verwahrten in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf. Foto: Keystone

Fälle wie der folgende waren in der Schweiz bisher nicht bekannt: Im Kanton Bern ist ein gefährlicher Straftäter aus der Verwahrung direkt in sein Heimatland ausgeschafft und dort auf freien Fuss gesetzt worden. Die unmittelbare Rückreise war die Bedingung für die Entlassung. Eine Entlassung in der Schweiz wäre nicht infrage gekommen, weil die Behörden zur Ansicht gelangten, dass der Mann hier eine Gefahr für die Öffentlichkeit dargestellt hätte.
Der Fall liegt bereits drei Jahre zurück, ist bisher aber nie ans Licht gelangt. Markus D’Angelo von der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern bestätigt entsprechende Informationen, die dem TA vorliegen. «Ja, eine Person wurde aus der Massnahme der Verwahrung bedingt entlassen – unter der Bedingung der unmittelbaren Rückreise in ihr Heimatland.»

Mehrheit gilt als geistig abnorm

Von der Verwahrung direkt ins Ausschaffungsgefängnis – im Kanton Bern, wo jährlich 23'000 Fälle bearbeitet werden, sei dies der einzige Fall dieser Art, sagt D’Angelo. Auch im Kanton Zürich wurde in den letzten fünf Jahren keine Ausschaffung eines Verwahrten angeordnet. Aus Gründen des Datenschutzes machen die Berner Behörden keinerlei Angaben über die Person, ihr Delikt und ihre Nationalität. Der Betroffene könnte selbst anhand weniger Angaben leicht identifiziert werden. 

Fest steht, dass er vor der Gesetzesrevision des Jahres 2007 verwahrt wurde. Er ist also einer der 47 ausländischen Verwahrten, die zu diesem Zeitpunkt in Schweizer Gefängnissen sassen.

Bis dahin wurden im Wesentlichen zwei Typen von Straftätern zum Schutz der Öffentlichkeit verwahrt: Gut 90 Prozent galten als sogenannt geistig abnorme Straftäter, von denen die Mehrheit schwere Gewalt- und Sexualstraftaten begangen hatte. Weniger als 10 Prozent der Verwahrten waren sogenannte Gewohnheitsverbrecher, die oft weniger schwere Delikte verübten, dafür aber umso häufiger. Eine der Voraussetzungen für eine Verwahrung war damals wie heute, dass ein Täter als rückfallgefährdet eingestuft wurde und schlecht auf Therapien ansprach.

«Besonderes Setting» verlangt

Wie ist es also möglich, dass ein Täter mit einer solchen Beurteilung in einem Land eine Gefahr darstellt, in einem anderen nicht? D’Angelo sagt, dass der psychische Zustand des Täters «ein besonderes Setting» verlangte. Dieses habe in der Schweiz nicht installiert werden können, die Bedingungen dafür seien durch seinen fremdenpolizeilichen Status, das familiäre Umfeld und die Arbeitsmöglichkeiten nicht gegeben gewesen. «In seinem Heimatland konnte nach intensivem Kontakt mit den Behörden sowie den medizinischen und familiären Bezugspersonen die Lebenssituation des Insassen konkret so ausgestaltet werden, dass die Legalprognose besser ausfiel als bei einem hypothetischen Verbleib in der Schweiz.» Will heissen: Ohne Job und Aufenthaltsbewilligung ist der Mann gefährlich, im Kreis seiner Familie sehen die Behörden in ihm ein kleineres Risiko. 

Wenn ein Straftäter in der ordentlichen Verwahrung überprüft wird, muss immer die zuständige Fachkommission beigezogen werden. Im erwähnten Fall war die Fachkommission Nordwest- und Innerschweiz dafür zuständig, den Täter zu beurteilen und eine Empfehlung abzugeben. Der Präsident der Kommission, Dominik Lehner, gibt aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskünfte zum Einzelfall selbst. Generell sei allerdings festzuhalten, dass es durchaus zu solchen Entlassungsentscheiden kommen könne. Der «soziale Empfangsraum» habe eine grosse Bedeutung darauf, ob sich ein Mensch gesetzeskonform verhalte. «Wenn jemand hier völlig entsozialisiert ist, in der Schweiz keine Wohnung und keine Arbeit hat, kann das einen grossen Einfluss auf die Prognose haben», sagt Lehner. 

Die meisten sind Persönlichkeitstäter

Demgegenüber sagt Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich: «In der Regel ist davon auszugehen, dass die bei diesen Personen festzustellende Gefährlichkeit im Ausland nicht geringer ist als bei uns in der Schweiz.» Urbaniok kennt den Fall nicht persönlich, sagt aber, dass es sich bei den meisten Gewalt- und Sexualstraftätern mit erheblichen Delikten um sogenannte Persönlichkeitstäter handelt. Bei solchen seien risikorelevante Merkmale in der Persönlichkeit angelegt, weshalb deren Gefährlichkeit weniger von den Lebensumständen abhänge. Urbaniok warnt davor, die «Effekte situativer Konstellationen bei Persönlichkeitstätern zu überschätzen». 

Dass sich etwa ein Pädophiler nicht davon abhalten lässt, nach der Ausschaffung in seinem Heimatland erneut die Nähe von Kindern zu suchen, zeigte sich im Jahr 2009. Damals deckte der TA auf, dass ein ungarischer Fussballtrainer, der in der Schweiz fünf Knaben sexuell missbraucht hatte, in seinem Heimatland erneut Fussballjunioren trainierte – ohne dass sein Vorgesetzter über sein Vorleben Bescheid wusste. Ob er sich weiter an Kindern vergangen hat, ist unbekannt.

Ohne Weisungen entlassen

Was haben die Berner Behörden also unternommen, um zu verhindern, dass der Mann erneut straffällig wird, der jahrelang in der Schweiz verwahrt war? Bei Verwahrten wird die bedingte Entlassung in der Regel mit sogenannten Weisungen verknüpft. Einem Täter, der im Rausch zu Gewalt neigt, kann etwa der Alkohol- und Drogenkonsum verboten werden. Der ins Heimatland abgeschobene Verwahrte wurde allerdings ohne Weisungen bedingt entlassen. Deren Überprüfung sei «sehr umständlich und setzt ein langwieriges Verfahren voraus», sagt D’Angelo. Deshalb würden Straftäter in aller Regel nur bedingt ins Ausland entlassen, wenn das Risiko auch ohne Weisungen vertretbar sei. «Der Empfangsraum im Ausland muss so vorbereitet werden können, dass die Rückfallgefahr äusserst klein erscheint», sagt D’Angelo. 

Deshalb sei im vorliegenden Fall «mitnichten von einem Export eines Risikos auszugehen», sagt D’Angelo. Ob der Betroffene in seinem Heimatland tatsächlich keine Probleme macht, ist nicht bekannt. Ob sich der Mann seit seiner Entlassung bewährt hat, ist unklar. D’Angelo sagt dazu: «Wir verfügen über keine gegenteiligen Informationen.»
Wie wird Einreise in die Schweiz verhindert?

Gemäss den letzten Einschätzungen von Schweizer Behörden war der Verwahrte bis zu seiner Entlassung zu gefährlich, um hier in Freiheit zu leben. Deshalb drängt sich die Frage auf, wie er an einer erneuten Einreise gehindert wird. Bei Ausschaffungen erlässt der Bund in der Regel eine Einreisesperre und schreibt die Person im Fahndungssystem Ripol aus. 

Dieses verhindert zwar nicht, dass Personen illegal einreisen können. Doch es ermöglicht, gesuchte oder bedingt entlassene Straftäter an der Grenze oder bei Kontrollen im Land zu erkennen. Auf die Frage, ob dies tatsächlich geschehen ist, antwortet D’Angelo: «Wenn eine Einreise zu verhindern ist, sind die Ausländerbehörden dafür zuständig.»   

Quelle: Tages-Anzeiger 23.6.14

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Montag, 2. Juni 2014

Anschaffen und Koksen steigern das BIP

«Sex, drugs and GDP», titelte die renommierte «Financial Times» am Freitag auf ihrer Frontseite. Der Grund für diese ungewöhnliche Schlagzeile in der Wirtschaftszeitung: Grossbritannien hat angekündet, das Geschäft mit illegalen Drogen und sexuellen Dienstleistungen ab September in seiner volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung berücksichtigen zu wollen. GDP ist das englische Kürzel für Bruttoinlandprodukt (BIP).

Die englischen Statistiker schätzen den Beitrag von 60 879 Prostituierten zur jährlichen Wirtschaftsleistung auf 5,3 Mrd. £. Dies unter der Annahme, dass die Sexarbeiterinnen 25 Kunden pro Woche bedienen und dafür im Schnitt £ 67.16 in Rechnung stellen. Drogendealer steuern angeblich 4,4 Mrd. £ zur Wirtschaft der Insel bei – wobei die Statistiker mit einem Heroin-Strassenpreis von 37 £ pro Gramm kalkulieren. Mangelnden Sinn fürs Detail kann man den Behörden sicher nicht vorwerfen. Dank der Berücksichtigung des Lasters wird das britische BIP über Nacht um umgerechnet fast 15 Mrd. Fr. steigen.

Im Rahmen einer Revision ihres BIP addieren die Briten zudem weitere, schwierig zu messende Aktivitäten auf, etwa den wirtschaftlichen Beitrag von Bürgern, die ihr Haus selber bauen, oder Dienstleistungen von Nonprofitorganisationen. Mit der Revision wächst die britische Wirtschaft wundersam um 2,3%. Zuvorgekommen sind den Briten allerdings wieder einmal die Italiener. Rom hatte schon am 22. Mai angekündet, dass ab Herbst auch die unternehmerischen Tätigkeiten des Drogenhandels, der Prostitution sowie Alkohol- und Zigarettenschmuggel im italienischen BIP berücksichtigt würden.

Bereits 1987 sorgten unsere südlichen Nachbarn für Furore, als sie die Schattenwirtschaft ins BIP aufnahmen. Das war damals gut fürs kollektive Selbstbewusstsein, denn die italienische Wirtschaft machte auf dem Papier einen Sprung um 18%. Dank diesem als «sorpasso» (Überholung) gefeierten Trick überrundeten die Italiener wirtschaftlich die Briten.

Behördlich empfohlen

Wer es fragwürdig findet, dass London und Rom ihr BIP um Drogen, Schmuggel und Sex erweitern, muss wissen, dass die beiden Länder damit lediglich europäische Empfehlungen umsetzen. Das europäische System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen will, dass Länder auch illegale Aktivitäten berücksichtigen, solange alle Beteiligten in diese einwilligen. Das ist für die Länder zwar schwierig umzusetzen, aber nur konsequent: Das BIP misst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die ein Land im Jahr produziert, und hat keine moralische Dimension.
Und die Schweiz, als Musterschülerin, die sie für gewöhnlich ist, hat ihr BIP bereits 2012 um die Aktivitäten Schmuggel, Prostitution und Drogen ergänzt. Die Experten bei der Zollverwaltung, welche die BIP-relevante Schätzung von Schmuggel und Drogen erarbeiteten, waren am Freitag nicht erreichbar. Doch allein die Berücksichtigung des Sexgewerbes habe damals das Schweizer BIP um 0,5% anschwellen lassen, sagt Philippe Küttel, Sektionschef beim Bundesamt für Statistik. Insgesamt stieg das Schweizer BIP infolge der Revision von 2012 um rund 4%. Das entspricht auf dem Papier einem Zuwachs pro Kopf von immerhin rund 2875 Fr.

Diese Beispiele zeigen, dass die Berechnung des BIP keine exakte Wissenschaft ist und sich die Methoden laufend weiterentwickeln. Trotz kaum vermeidbaren Ungenauigkeiten bleibt das BIP die Referenz für den Vergleich zwischen den Volkswirtschaften verschiedener Länder. Es ist zudem die entscheidende Bezugsgrösse für die Berechnung der Verschuldung – die in Prozent des BIP ausgedrückt wird – oder auch für Wohlstands-Ranglisten, für die in der Regel das BIP pro Kopf herangezogen wird.

Besonders schwierig ist die BIP-Berechnung für die Behörden wenig entwickelter Länder, in denen oft mehr Menschen im informellen Sektor arbeiten als in einem offiziellen Anstellungsverhältnis. BIP-Wachstumszahlen dagegen sind trotz häufigen Revisionen recht zuverlässig: Bei Änderungen der BIP-Berechnungsmethode passen die Statistiker jeweils auch die volkswirtschaftlichen Rechnungen der Vorjahre an, so dass die Vergleichbarkeit gewährleistet bleibt. Das ist wichtig zu wissen, denn derzeit künden Staaten fast im Wochentakt Anpassungen ihrer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen an, weil ein entsprechendes Regelwerk der Uno dies vorsieht. Diese Revisionen bringen teilweise auch symbolträchtige Ranglisten durcheinander. Dank der Anpassung seiner BIP-Berechnungen löst etwa die 170-Millionen-Nation Nigeria dieses Jahr den Erzrivalen Südafrika als grösste Volkswirtschaft Afrikas ab.

Ein einmaliger Schub

Die europäischen Länder inklusive der Schweiz werden gleichzeitig Ende September Änderungen an ihrer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vornehmen. Neben individuellen Anpassungen, wie sie nun Grossbritannien und Italien angekündet haben, gibt es primär eine folgenreiche Neuerung, die alle Länder betrifft: Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, die heute noch als laufende Ausgaben taxiert werden, gelten neu als Investitionen – und heben das BIP-Niveau an.

Die Schweiz wird mit ihrem BIP von dieser Änderung überdurchschnittlich profitieren. Die Neuklassierung der Forschung und Entwicklung hat für die Schweiz nach ersten Schätzungen einen BIP-Anstieg von 2,5% zur Folge. Für die EU wird der Effekt im Schnitt 1,9% ausmachen, wie die Statistiker in Brüssel schätzen. Das Schweizer BIP legt also vergleichsweise stärker zu. Dabei handelt es sich aber um einen einmaligen Schub, der keinen Einfluss auf das künftige BIP-Wachstum hat.

Die Stärke seiner Forschung und Entwicklung passt jedoch gut ins Gesamtbild der robusten Verfassung, in welcher sich die Schweizer Wirtschaft seit längerer Zeit befindet. Seit sie durch Wirtschaftsreformen und Personenfreizügigkeit eine hartnäckige Stagnation in den 1990er Jahren hinter sich gelassen hat, ist die Schweiz zu einer Art europäischem «Tigerstaat» geworden.

Gemäss der Konjunkturforschungsstelle KOF legte die Schweizer Volkswirtschaft von 2001 bis 2010 um jährlich 1,7% zu. Das BIP der EU expandierte im selben Zeitraum um 1,4% pro Jahr. Diese Wachstumsdifferenz scheint auf den ersten Blick nicht gross, doch man sollte den Zinseszinseffekt nicht vernachlässigen, der sich über eine Dekade einstellt.

Und nach dem Ausbruch der Finanzkrise hat sich die Differenz zwischen der Schweiz und ihren europäischen Nachbarn sogar noch verstärkt (siehe Grafik). Letztes Jahr legte die Schweizer Wirtschaft 2% zu, und das BIP überschritt in absoluten Zahlen erstmals die Marke von 600 Mrd. Fr. Auch für das laufende und das nächste Jahr gestehen Konjunkturforscher der Schweiz ein höheres Wachstum zu als dem Rest Europas.

Quelle: NZZ am Sonntag 1.6.14

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