Montag, 14. April 2014

Es hilft nur Abschied von Öl, Kohle und Gas

So können wir Menschen nicht weitermachen: Das ist die Kernbotschaft des dritten Teils des neuen Uno-Klimaberichts. Der weltweite Ausstoß an Treibhausgasen muss bis Mitte des Jahrhunderts um 40 bis 70 Prozent sinken. Die Kosten sind Experten zufolge überschaubar.

Die schlechte Nachricht zuerst: Die weltweiten CO2-Emissionen sind in den vergangenen zehn Jahren so stark gestiegen wie noch nie zuvor, um durchschnittlich 2,2 Prozent pro Jahr. Schuld daran ist neben dem Wachstum der Weltbevölkerung vor allem das Wirtschaftswachstum. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat den Trend nur kurz bremsen können. So ist es im dritten Teil des Weltklimaberichts nachzulesen, der an diesem Sonntag in Berlin vorgestellt wurde. Er befasst sich mit den Strategien im Kampf gegen die Erderwärmung

Die Menschheit muss dringend handeln, wenn sie den Klimawandel auch nur halbwegs im Griff behalten will - das ist das Urteil der Experten. Dazu müsse der Anteil an CO2-armen Technologien zur Stromerzeugung bis zum Jahr 2050 um den Faktor drei bis vier steigen. Das betrifft die erneuerbaren Energieträger wie Wind, Solar, Wasser und Biomasse - aber eben auch Atomstrom und Energieerzeugung aus fossilen Brennstoffen mit anschließender CO2-Abtrennung und -Speicherung, kurz CCS. 

Dumm nur, dass das Uno-Umweltprogramm gerade festgestellt hat, dass die weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien gegenwärtig sinken - was nur zum Teil damit zu tun hat, dass die Technik billiger wird. Gleichzeitig, so berichten es die IPCC-Experten, steigt weltweit die Bedeutung der Kohle für die Stromerzeugung. Dabei lautet die zentrale Forderung der Forscher: Vor allem im Energiesektor dürfen weniger fossile Brennstoffe zum Einsatz kommen. Dekarbonisierung heißt es, wenn die Menschheit versucht, von Öl, Gas und Kohle loszukommen. Nur, wie geht das am besten? Mit Wind, Sonne und Wasser? Mit Atomkraft? Durch das Wegsperren von CO2 im Boden? Vielleicht sogar, nachdem vorher potentielle Nahrungsmittelpflanzen gezielt verfeuert wurden? Und was ist mit großräumigen Eingriffen ins Weltklima, dem sogenannten Geo-Engineering? All diese Optionen liegen auf dem Tisch.

 Der Weltklimarat (IPCC) sagt nicht direkt, was zu tun ist. Er liefert nur Entscheidungshilfe - bei der Umsetzung sind die Staaten gefragt. Deren Vertreter mischen jedoch kräftig mit, wenn die Zusammenfassungen der IPCC-Texte ausgehandelt werden. Der am Sonntag vorgestellte Bericht ist der dritte Teil des aktuellen Weltklimareports. Im ersten Teil haben die Autoren die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel zusammengetragen. Im zweiten Teil ging es um die Folgen für Mensch und Natur. Der dritte Teil liefert nun Ideen, wie das Problem technisch in den Griff zu kriegen ist. 

Es sind noch einmal 2000 Seiten eng bedrucktes Papier. Die ersten beiden Teile waren ähnlich dick. Jeweils rund 30-seitige Zusammenfassungen sollen politischen Entscheidungsträgern helfen, die richtigen Schlüsse aus dem Papierberg zu ziehen. Gleichzeitig sind sie so zurechtdiskutiert, dass direkte Verantwortlichkeiten nicht zu finden sind. Die Wissenschaftler haben sich auf die Wissenschaft konzentriert, die Politik muss den Rest erledigen. Wenn nichts passiert, so das Urteil der IPCC-Autoren, dürften die weltweiten Durchschnittstemperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts um 3,7 bis 4,8 Grad steigen - mit dramatischen Folgen

Nun die gute Nachricht: Diese Szenarien lassen sich nach Ansicht des IPCC noch immer verhindern - dafür muss der Ausstoß an Treibhausgasen bis zur Mitte des Jahrhunderts global um 40 bis 70 Prozent sinken - und bis zum Jahr 2100 auf null zurückgefahren werden. Die bisher in den internationalen Klimaverhandlungen gemachten Zusagen reichen nicht aus, um das Problem im Griff zu behalten. Sie dürften zu einem Temperaturplus von mindestens drei Grad führen.

Klimaschutz ist machbar, Herr Nachbar - aber wer zahlt?
Wer sich wie stark für den Klimaschutz anstrengen muss, dazu sind in der Zusammenfassung des Berichts keine Aussagen zu finden. Klassischerweise wird in den Weltklimaverhandlungen nur zwischen Industrieländern und allen anderen Staaten unterschieden. Im aktuellen Bericht wird dagegen nach einem halben Dutzend geografischen Regionen differenziert. Daraus lassen sich keine Verpflichtungen für einzelne Länder ablesen, wohl aber für Ländergruppen. Doch weil das Thema zu heikel war, wurde es in den politischen Verhandlungen um die Zusammenfassung abgeräumt.

Die Fronten sind aber nicht so klar, wie sie erscheinen. Wichtigster CO2-Produzent der Welt ist China (25 Prozent der Emissionen), das längst die USA (17 Prozent) überholt hat. Gleichzeitig ist der Treibhausgasausstoß der USA zuletzt gesunken - weil statt klimaschädlicher Kohle mehr Gas aus Fracking-Förderung verbrannt wird. Das hilft zumindest einstweilen in der Statistik. Und auch in China sehen Umweltschützer Hinweise auf eine Abkehr vom Kohlestrom. Nach einer Greenpeace-Studie ist daran die schlechte Luft in vielen Städten des Landes Schuld. Deswegen hätten sich ein Dutzend der 34 chinesischen Provinzen verpflichtet, in den kommenden Jahren den Kohleverbrauch um bis zu 50 Prozent zu senken. Die Region um die Hauptstadt Peking wolle das Ziel sogar binnen fünf Jahren erreichen. Dabei könne China bis zum Jahr 2020 so viel CO2 einsparen, wie Kanada und Australien zusammen ausstoßen. In Deutschland werden zwar die erneuerbaren Energien ausgebaut, die ausgestoßene CO2-Menge nimmt allerdings trotzdem zu - weil auch die Braunkohle boomt. Die Regierung will daher in der kommenden Woche Eckpunkte für ein Sofortprogramm zur Eindämmung des Kohlendioxid-Ausstoßes vorstellen.

Im aktuellen IPCC-Bericht können Politiker nachlesen, wie viel Anstrengungen zu einem wirksamen Klimaschutz kosten dürften - auch wenn die Angaben etwas schwer zu entschlüsseln sind. Grundlage der Berechnung sind die weltweiten Konsumausgaben für Güter und Dienstleistungen. Die werden laut Schätzungen um 1,6 bis drei Prozent pro Jahr steigen. Der Klimaschutz würde den Wissenschaftlern zufolge durchschnittlich 0,06 Prozentpunkte davon abknapsen. Aber, wie gesagt, welche Staaten welchen Anteil der Kosten schultern sollen, dazu sagt der IPCC nichts - es ist auch nicht sein Job. Eine Sache stellen die Wissenschaftler in ihrem Bericht allerdings klar: Das Klimaschutzproblem lässt sich nicht dadurch lösen, dass die Reserven an fossilen Brennstoffen zur Neige gehen. Dafür sind die weltweiten Lagerstätten noch zu voll.

Quelle: Spiegel 14.4.14

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Montag, 7. April 2014

Wem Geld auf dem Götti-Sparkonto gehört

Sparkonten zugunsten von Kindern sind eine beliebte Geschenkidee naher Verwandter. Doch was passiert, wenn es sich der Götti plötzlich anders überlegt?

Ob die Eltern oder die Gotte das Konto eröffnen, macht einen entscheidenden Unterschied.<br />Foto: Simon Margetson (Alamy) 
Ob die Eltern oder die Gotte das Konto eröffnen, macht einen entscheidenden Unterschied. Foto: Simon Margetson (Alamy)

Gross war die Freude, als im Dezember 1994 die kleine Regina (Name von der Redaktion geändert) die Welt erblickte. Die frisch gebackene Gotte eröffnete nur wenige Wochen später ein Sparkonto. Sie wollte eine grössere Summe Geld für Regina ansparen, um sie bei grösseren Wünschen oder Anschaffungen zu unterstützen, wenn sie volljährig sein würde. Jahr für Jahr zahlte die Gotte auf das Sparkonto ein und versprach Regina die Summe für ihren 18. Geburtstag. Als Teenager verzichtete sie deswegen sogar auf Geschenke, damit mehr auf das Sparbüchlein einbezahlt wurde.

Ende 2012 kam der grosse Tag der Volljährigkeit, aber nicht das versprochene Geld der Gotte. Als sich Regina bei der Bank nach dessen Verbleib erkundigte, erfuhr sie, dass die Gotte das Konto kurz vor dem Geburtstag aufgelöst und das Vermögen, das mehrere Tausend Franken zählte, abgehoben hatte. Die Gotte versprach zwar, sie wolle das Geld bei passendem Zeitpunkt selbst überreichen – was aber nie geschah. Regina fühlt sich betrogen.
Der Fall wirft Fragen auf: Wem gehört das Geld auf dem Konto? Und durfte die Bank der Gotte das Geld auszahlen? 

Zwei Arten von Sparkonten
Die meisten Banken unterscheiden zwischen zwei Arten von Sparkonten für Kinder: Zum einen gibt es das Jugendsparkonto, welches nur von den Eltern eröffnet werden kann und auf den Namen des Kindes läuft. Dafür gelten strenge Gesetze, da es sich um sogenanntes Kindesvermögen handelt. Das Geld, das sich auf diesem Konto befindet, gehört von Anfang an dem Kind. Die Eltern vertreten das Kind zwar von Gesetzes wegen, sie dürfen das Konto aber nur verwalten und nichts davon abheben. Einzig die Erträge dürfen sie für den Unterhalt und im Interesse des Kindes verwenden.

Zum anderen gibt es Geschenksparkonten, die Götti, Oma oder andere Drittpersonen eröffnen können. Diese Konten laufen bei den meisten Banken unter dem Namen des Eröffners, der dementsprechend die Vollmacht besitzt. Von den zehn Banken, deren Angebot der TA analysiert hat, lautet das Konto nur bei der UBS, bei Clientis und Postfinance auf den Namen des Kindes. Selbst hier bleibt das Verfügungsrecht aber meist beim Eröffner. Gotte oder Götti können über Einzahlung und Bezüge bestimmen und entscheiden, wann das Geld dem Kind übergeben wird.
Damit bleibt das Geld bei den meisten Banken im Eigentum des Eröffners. Das kann nicht nur dann zum Problem werden, wenn die Gotte es sich plötzlich anders überlegt – wie bei Regina. Sondern auch im Todesfall. Deshalb raten die Banken auch, den Begünstigten testamentarisch festzuhalten, damit das Geld nicht in der Erbmasse untergeht.

Für die Übergabe stellen viele Banken kurz vor dem 18. Geburtstag eine Geschenkurkunde aus. Diese gilt häufig als Vollmacht, um das gesparte Vermögen auf ein neues Konto zu übertragen. Nur bei Postfinance, Clientis und bei der UBS geht das Konto mit der Volljährigkeit automatisch auf das Kind über. Das nicht einheitliche Angebot der verschiedenen Banken führt oft zu Konflikten und Unsicherheiten. Der weite Interpretationsspielraum zeigt, wie schwierig solche Fälle sind, weil je nach Bank und deren Richtlinien die Sachlage unterschiedlich beurteilt wird. Aber auch wenn sich die Bank korrekt verhalten hat: Es bleibt die Frage, wem das Geld gehört und ob Regina nicht dennoch Anspruch auf das Geld hätte. 

Keine Eindeutige Antwort
Ob das Vermögen aus juristischer Sicht als Eigentum des Kindes gilt, lässt sich laut Peter Breitschmid, Professor an der Universität Zürich, nicht eindeutig beantworten: «Zivilrechtlich sind solche Konten zwar nicht zwingend eine Schenkung, aber sie könnten als Schenkungsversprechen gesehen werden.» Nämlich dann, wenn dem Kind versprochen wurde, dass es das Geld später bekommt – etwa mit Erreichen der Volljährigkeit. 

«Wer ein solches Konto eröffnet hat, bleibt zwar bis zum Übertrag Eigentümer des Geldes. Doch ist er grundsätzlich verpflichtet, sein vertraglich vereinbartes Schenkungsversprechen zu erfüllen», sagt Breitschmid. Und zwar unabhängig von den Regeln der Bank; diese Abmachung betrifft lediglich Regina und ihre Gotte. Eine abschliessende Beurteilung sei aber nicht möglich, weil es bislang kaum Gerichtsentscheide gibt, auf die man sich stützen könnte. Kein Wunder: Welches Kind verklagt schon die eigenen Bekannten oder die Familie.

Hätte die Gotte übrigens bei der Clientis ein Konto angelegt, wäre Regina vielleicht nicht leer ausgegangen. Clientis ist die einzige Bank, bei der sogar das von Verwandten eröffnete Sparkonto mit den strengeren Regeln eröffnet werden kann – also ohne Rückzugsmöglichkeit. Sonst sind solche Konti den Eltern und dem Kind selbst vorbehalten. Allerdings haben die wenigsten Eltern beim Götti-Konto ein Mitspracherecht bei der Wahl der Bank. Und sogar wenn: Wer geht schon davon aus, dass dies 18 Jahre später einen entscheidenden Unterschied machen könnte.

Lohnende Vorzugszinsen
Sparkonten sind nicht nur eine hübsche Geschenkidee, sie lohnen sich auch wegen der Vorzugskonditionen. Diese sind um einiges besser als bei normalen Sparkonten. Die Zinsen sind meist gleich hoch wie bei Jugendsparkonten, aktuell zwischen 1 und 2 Prozent. Allerdings gilt das nur bis zu einem gewissen Betrag, damit die Eltern keinen Anreiz haben, ihre eigenen Ersparnisse zu einem besseren Zinsfuss anzulegen. 

Quelle: Tages-Anzeiger 7. April 2014

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Freitag, 4. April 2014

Keine Sorgen um die direkte Demokratie

Die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative war ein Protestvotum. Was ist nun zu tun? Philosoph Georg Kohler sieht nur einen Weg.

«Falls es so weit kommen sollte, wird man über den bilateralen Weg abstimmen müssen»: Der emeritierte Philosophie-Professor Georg Kohler.
«Falls es so weit kommen sollte, wird man über den bilateralen Weg abstimmen müssen»: Der emeritierte Philosophie-Professor Georg Kohler Bild: Archiv TA/Thomas Burla

Herr Kohler, viele wenig politikinteressierte Leute liessen sich bei der Abstimmung über die Einwanderungsinitiative mobilisieren. Ist dies ein schlechtes Zeichen für unsere Demokratie?
Man darf ruhig feststellen, dass in der direkten Demokratie nicht rein rationale Argumente auch zum Zug kommen. Wer sonst nicht abstimmen geht, den packt eher eine Abstimmung, die einen emotionalen Wert aufweist. Ist dies nun gut oder schlecht? Zunächst einmal ist es gar nicht so schlecht. Die Legitimität einer politischen Ordnung hängt davon ab, ob die Leute bereit sind, dieser zu folgen, und ob sie sich in der Gesellschaft aufgehoben fühlen. Dazu ist es sogar wesentlich, dass in der direkten Demokratie nicht nur rein rationale Argumente eine Rolle spielen.


Es beunruhigt Sie also nicht, wenn sich populistische Argumente durchsetzen?
Sie müssen nicht annehmen, ich hätte am 9. Februar Ja gestimmt. Ich habe immer gesagt, dass die Einwanderungsinitiative ein trojanisches Pferd ist, mit dem Christoph Blocher die weitere Integration der Schweiz in die Europäische Union erschweren will. Die direkte Demokratie kann in der Tat aufgemischt werden. Man darf aber nicht vergessen, dass die Schweiz keine Landsgemeindedemokratie ist, sondern eine halbdirekte Demokratie mit einem Parlament, mit Rechtsstaatlichkeit und einer Exekutive, welche über eigene Funktionen verfügt. Kurz: Es ist gut, dass es unsere direkte Demokratie gibt, aber es ist auch gut, dass sie durch andere Gewalten und Institutionen auch eingehegt ist.


Gerade die SVP legt Abstimmungsresultate aber gleichsam als absolutistischen Volkswillen aus.
Hört man gewissen wild gewordenen Befürwortern der direkten Demokratie zu, könnte man meinen, andere Institutionen wie die Gerichte seien überflüssig oder zumindest zweitrangig. Diesen Leuten muss man sagen: Gott sei Dank haben wir auch andere Institutionen, die Korrekturen anbringen können. Wir haben ein ausgewogenes Verfassungssystem, in dem die direkte Demokratie ein Element ist – aber auch nicht mehr.


Ist es denn legitim, an diesem Volksentscheid nun rütteln zu wollen?
Anerkennt man die direkte Demokratie als eine unserer grundlegenden Institutionen, wird man diesen Entscheid nicht einfach schlicht umstossen können. Der mit der Abstimmung bekundete Wille besagt aber keineswegs, dass man den bilateralen Weg künden will. Die Frage ist, ob man einen Mittelweg findet, was aber nicht alleine von der Schweiz, sondern auch von der EU abhängt. Die Variante, die Einwanderungsinitiative so rasch und so brutal wie möglich durchzusetzen, um eine Abstimmung über die bilateralen Verträge zu erzwingen, also gleichsam zu sagen, nun löffeln wir die Suppe ganz heiss aus, und wenn ihr euch dann die Zunge verbrennt, stimmen wir nochmals ab, halte ich für politisch unklug und auch sehr unschweizerisch. Falls es so weit kommen sollte, wird man über den bilateralen Weg abstimmen müssen – vorher ist aber alles zu unternehmen, um einen Kompromiss zu finden.


Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat am Mittwoch in Bern gesagt, die Demokratie könne Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmten, und die repräsentative Demokratie gelobt. Gibt es Themen, die zu komplex sind für eine Volksabstimmung?
Das ist die Allerweltskritik an der direkten Demokratie – dass sie zu Populismus, zur Demagogie, zur Kurzfristigkeit und zur Verführbarkeit neigt. Natürlich gaben hier jene Leute den Ausschlag, die sonst nicht abstimmen gehen und die eher aus dem Bauch abstimmen. In der Mitte war aber auch mehr als ein Drittel für die Initiative. Es kommt hier ein tiefes Unbehagen zum Ausdruck, dass ich so selber nicht teile, das man aber ernst nehmen muss. Wie eine konkrete Lösung aussieht, weiss ich auch nicht. Ob sich eine finden lässt, ist auch davon abhängig, ob die EU bereit ist, das Unbehagen auch als ihr eigenes Problem anzuerkennen.


Beim Verfolgen der Diskussionen um die Zuwanderungsinitiative konnte man den Eindruck gewinnen, in der Schweiz bestünde zurzeit keinerlei Konsens: Weder über Ausländer noch über den Wohnungsbau noch über das Wirtschaftswachstum. Hat sich die Schweiz auseinandergelebt?
Die Politik ist nur in sehr schwierigen Situationen eine Frage von Entweder-oder. Fast immer ist sie eine Frage der Balance und des Ausgleichs. Wir leben in einer Zeit eines enormen Wandels. Die Wirtschaft erlebte nach dem Ende des Kalten Kriegs nochmals einen Aufschwung, hinzu kamen die neuen Technologien und die Öffnung der Grenzen. Dass da das sorgfältig austarierte Gleichgewicht der zwanzig Jahre davor keinen Bestand mehr hat und ein neuer Konsens gesucht werden muss, ist nicht erstaunlich. In Gefahr sehe ich auch nicht den absoluten Grundkonsens der Schweiz: Wir wollen nach wie vor keinen Krieg, wir wollen verschiedene kulturelle Elemente und wir wollen die Demokratie. In Gefahr ist der Konsens über das Leitbild der Schweiz. Ist jenes der bewaffneten und neutralen Schweiz, die sich international alleine durchsetzt, noch tauglich oder brauchen wir eines einer Schweiz, die sich stärker integriert? Dabei geht es auch bei der Gripen-Abstimmung. Wir sind uns ja im Klaren, dass dieser Jet militärisch nicht wirklich sehr viel bewirken kann. Aber wieso will ihn Ueli Maurer? Weil er für sein Bild der bewaffneten und neutralen Schweiz nötig ist. Verzichtet man darauf, sind wir stärker auf Zusammenarbeit angewiesen. Die Integration in Europa und die damit verknüpfte Wirtschaftspolitik bleiben umstritten. Anders aber etwa die Sozialwerke, die in den 90er-Jahren im Schussfeld des Neoliberalismus waren. Über diese besteht heute wieder ein Konsens. Also: Es gibt Elemente, die umstritten sind. Grundsätzlich habe ich aber keine Angst um die Schweiz.


Was ist, wenn sich die Tendenz dieser Abstimmung noch verstärkt und zunehmend nur noch zur Urne geht, wer unzufrieden ist – wird dann plötzlich die heute auch gehörte Forderung nach einem Stimmzwang laut?
Nein, nein, nein – dreimal nein! Um Himmels willen. Da stimmt man ja nur ab, was einem gerade als Erstes in den Sinn kommt. Dies passt wirklich nicht zur Demokratie, diese schützt in erster Linie die Freiheit, und dazu gehört auch jene, nicht abzustimmen. Das Schöne ist ja: Es gibt bei den Abstimmungen ja viele, viele Fragen, bei denen man sich Ja oder Nein vorstellen kann. Dort, wo es wirklich ums Lebendige geht, melden sich die Leute ja. Ich kann mir vorstellen, dass jene, die nun nicht an die Urne gingen, weil sie dachten, die bilaterale Integration werde nicht auf die Probe gestellt – diese werden das nächste Mal eher gehen. Die Befürworter müssen sich nun halt auf die Socken machen.  


Quelle: Tagesanzeiger.ch/Newsnet  04.04.2014

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